Taryn Simon: Transatlantic Sub-marine Cables Reaching Land VSNL International Avon, New Jersey, 2007

In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren war das World Wide Web ein Gewässer, in dem Wagemutige die streams und torrents zu ihren Vorteilen nutzen, um darauf zu surfen. Heute ist dieses Gewässer evaporiert. Die herrschende Metapher zur Beschreibung des Internets ist nun die Cloud. Unser Blick ist nach oben gerichtet, hin zum beinahe Immateriellen, jedenfalls Ephemeren: Dimensionslose Datenwelten, die weder Raum noch Zeit in Anspruch nehmen. 

Aber das ‚Internet‘ befindet sich in gekühlten Lagerhallen irgendwo am Rande von Städten, übervoll mit Abwärme produzierenden Servern, zwischen denen sich physische Datentrassen aus Glasfasern erstrecken. Denn die weniger greifbaren Elemente wie WiFi und 5G überbrücken nur die kürzesten Distanzen unserer digitalen Kommunikation. Die Kurzsichtigkeit gegenüber dieser Infrastruktur, die alles hinterm nächsten Router ins Unscharfe rückt, ist allerdings weit verbreitet und gern gesehen. Der durch die Metaphorik der Sprache untermauerte Dualismus, der transzendentes Netz und manifestes Netzwerk (oder World Wide Web und Internet) trennt, verschleiert die Tatsache, dass unsere Daten sich stets auf Privatwegen riesiger Konzerne bewegen.

Fünf dieser Kabel hat Taryn Simon als visuelle Rückführung des Metapher gewordenen Netzwerks zu dessen materiellen Bedingungen porträtiert. Im Bildtitel sind sie als Unterseekabel der VSNL (heute Tata Communications) oder Videsh Sanchar Nigam Limited markiert. VSNL betreibt das weltweit größte Unterseekabel-Netzwerk, das mit einer Gesamtlänge von 500.000 km fast die Hälfte aller Unterssekabel ausmacht. 

Selten dicker als eine Cola Dose und an Stellen gerade einmal Edding-dick sind diese Kabel, die für viele von uns die Welt bedeuten. Neunundneunzig Prozent internationaler Datenübertragung verläuft über die Kabel am Meeresboden. Entlang der ehemaligen Kolonialschiffartsrouten verlaufen sie und verbinden sämtliche Kontinente, mit Ausnahme des Antarktischen. Sie werden mit speziell dafür entwickelten Schiffen auf dem Meeresboden verlegt und bei der Anlandung, zum Schutz vor Erdrutschen, Meeresbewohnern und Fischereiequipment, metallen eingefasst und vergraben.

Transatlantic Sub-marine Cables Reaching Land, VSNL International, Avon, New Jersey zeigt fünf Kabel (ein gelbes und vier orangene), die senkrecht, aber leicht schief aus dem Boden als Jakobsleiter ins Passepartout laufen. Der Rest des Bildes ist eingenommen von einem ausufernden leeren Raum, der auf unkonkrete Weise unterfinanzierte Wissenschaftlichkeit vermittelt. 

USA, New York. Ankunft des Unterwasserkabels am Rockaway-Beach. September 1924

Traditionell wird das hier erwähnte Anlanden eines Unterseekabels meist in dem historischen Moment dokumentiert, da die heldenhafte Überfahrt geglückt ist und das Kabel heroisch an Land gezogen wird, oder aber als Bild von rostigen Rohren, die sich in den anbrandenden Wellen verlieren; stets jedoch von Land aus fotografiert und mit dem Horizont im Bild, hinter welchem irgendwo ein anderes Ufer liegt, das nun mit diesem verbunden ist. Simon allerdings hat die Küstenlinie durch eine Fußleiste getauscht, die Szene wegverlegt vom Nass des Meeres hinein in den beinahe sterilen Raum, aus der gebändigten ‚Natur‘ in die bürokratische Architektur.

Ebenso wie das Minimum an architektonischer Referenz, gibt auch Simons informationsreicher Titel Objektivität und Präzision vor, um dann mit einer einzigen Phrase ins Poetische zu brechen. »Reaching Land« zeigt nicht nur eine Richtung an – deren Richtigkeit schon Nicole Starosielski vor mir angezweifelt hat1 –, sondern ruft auch die zahlreichen maritimen Metaphern auf, die scheinbar von Beginn an die Beschreibung des World Wide Web begleitet haben. Maritime Metaphern, die ursprünglich vielleicht weniger den Geschmack von Salzwasser als den Geruch von verbranntem Steak mit sich getragen haben, und dennoch verwurzelt sind in Gefahr und Ungewissheit der Seefahrt. Kaum irgendwo wirken Beschreibungen vom Web als Wasser passender als bei der Erwägung der Unterseekabel, die Information als Lichtwellen unter den Gezeiten hindurchjagen. Tatsächlich erreichen die Kabel das Land außerhalb dieses Raumes, irgendwo an der Küste New Jerseys, laufen dann unterirdisch zur fotografierten Kabelstation, die Wand hinauf und dann an der Decke entlang zu verschiedenen Verzweigungen. Innerhalb der Station werden entgegen der beschriebenen Kabelrichtung die Signale zum Datenaustausch zusammengeführt und verstärkt, die von den USA ausgehend über den Atlantikboden übertragen werden.

Indem sie das „Anlanden“ ins Innere der Station verlegt hat, zeigt Taryn Simon nicht das Hindernis, welches das Unterseekabel zu überwinden sucht, sondern behält es der Imagination vor. Zusammen mit dem Aufwärtsstreben der Kabel im Bild suggeriert das „Reaching Land“ im Titel das Ende der Ozeansüberquerung des Kabels und vielleicht vielmehr noch das Hinaufsteigen aus den Tiefen des atlantischen Ozeans aus der beängstigenden Ungewissheit, die Deep Sea und Deep Web miteinander verbindet. Das Anlanden ist hier prinzipiell losgelöst von der Doppelung der Szene jenseits des großen Teichs. Zwar ist im Letraset Begleittext an der Galeriewand das andere Kabelende bei Saunten Sands im Vereinigten Königreich erwähnt, doch verlieren die Kabel im Bild ihren Ursprungsort und erscheinen als Totem, der eine mythische Verbindung zwischen uns und dem Web als Naturerscheinung ermöglicht – das Anlanden als das Ende einer Seereise, die wie das World Wide Web selbst ohne Heimathafen auszukommen scheint. 

Diese Abwesenheit eines Ursprungsortes holt den eingangs erwähnten Dualismus, der transzendentes Netz und manifestes Netzwerk trennt, direkt ins Bild. Der Großteil des Netzwerks besteht immer noch aus Kabeln, wie sie Taryn Simon porträtiert. Aber ihr Bild ist eine fast abwegige Ausnahme. Der Idee unserer vernetzten Welt begegnen wir in der Regel mit Diagrammen und (visuellen) Metaphern. Die physischen Voraussetzungen werden ignoriert. Wir haben uns so sehr dran gewöhnt, das Netzwerk als Metapher oder als Modell zur Beschreibung von Gesellschaft zu verwenden, dass es beinahe unmöglich scheint, dass es ein ‚Netzwerk‘ als Netzwerk geben könnte.

Eine fehlgeleitete Idee, die mitunter durch John Perry Barlows 1996 verfasste Declaration of the Independence of Cyberspace an Popularität gewann und aus unerklärlichen Gründen mit Edward Snowdens Enthüllungen 2013 kein Ende nehmen wollte. Simons Fotografie stammt aus dem Jahrzehnt  dazwischen; dem Jahrzehnt des ersten Internet Blockbusters und dem Jahrzehnt, als die ersten digital gesteuerten Drohnen weniger digitale Leichen produzierten. Taryn Simons Fotografie ist im Rahmen ihrer Serie An American Index of the Hidden and Unfamiliar, aber auch für sich allein genommen eine unheimliche Illustration der Gewissheit, dass der andere, der digitale Dualismus, zwischen Cyberspace und realer Welt ein simpler Selbstbetrug ist. Die fünf unscheinbaren Kabel, denen durch die Fotografie Bedeutung verliehen wird, haben schon vor ihrer Bildwerdung Bedeutung getragen und (über)tragen diese auch heute noch. 

Trotz dieser Relevanz erscheint Transatlantic Sub-marine Cables Reaching Land, VSNL International, Avon, New Jersey als Dokument einer digitalen Welt aus der Zeit gefallen, ja fast archaisch – und tat dies auch schon 2007. Die fünf dicken Kabel möchten nicht so richtig in unser Bild vom Netz als immaterieller Ort passen. Wer denkt schon heute an 19 Jahre alte Glasfaserkabel, wenn ständig von der Cloud gesprochen wird? Das WWW selbst und die Sprachen, die es beschreiben, projizieren ein mögliches, zukünftiges Internet über das unsere. Wir sind kurzsichtig im Bezug auf die Infrastruktur, die das Digitale ermöglicht, und weitsichtig im Angesicht des technologisch Möglichen von morgen. Die tech-Sprache ist zum wortwörtlichen Neologismus verdammt. Nicht nur die Server müssen vor dem schädlichen Staub beschützt werden, der als Zeichen unser aller Vergänglichkeit stetig auf uns herniederrieselt. Staub erzeugt Kurzschlüsse, Hitze, Festplattenausfälle und führt zum Crash von Servern.

Umgekehrt ist es der Staub, der bei Transatlantic Sub-marine Cables Reaching Land, VSNL International, Avon, New Jersey die Fragilität der Kabel, und damit des gesamten Systems aus weltumspannenden Glasfasern, markiert. Das blecherne Gatter, das die fünf Kabel umzäunt, wird keine mutwillige Unterbrechung des Datenstroms aufhalten können. Lediglich markiert das Gerüst eine Grenze. Eine Grenze, die scheinbar hauptsächlich für (vermutlich unterbezahlte) Reinigungskräfte gesetzt ist. Um die Kabel herum wird das ansonsten glänzende Linoleum matt. Kein feuchter Wischer darf sich diesem einen Nabel der Welt, diesem Knoten im Netz nähern. Hier in der Station von VSNL International werden die Unterseekabel wasserscheu.