Zum Ende des Ersten Weltkrieges avancierte die Körperprothese zum allgegenwärtigen und doch völlig neuartigen Phänomen. Fasziniert von diesem Novum griffen es viele Künstler:innen auf und setzten sich bildnerisch mit dem Körpersubstitut auseinander. Im Wissen um die eindrückliche Wirkung entstanden in der Folge etliche effektreiche und dramatische Anklage- sowie Satirebilder, deren scharfe Bildsprache sich allzu gern des Pathos der bizarr anmutenden Fremdkörper bediente. Einen deutlich verhalteneren, aber nicht desto weniger eindrücklichen Blick wirft Heinrich Hoerle in einer Lithografie von 1920 auf das Motiv der Prothese.
In der Arbeit mit dem Titel „Das Ehepaar“ stehen die titelgebenden Figuren im Zentrum eng verschlungen, wobei sich ihre leicht gesenkten Köpfe an der Stirn beziehungsweise Schläfe leicht berühren. Das Gesicht des Mannes ist von tiefen Sorgenfalten überzogen, deren gekrümmter Verlauf stille Wehmut aber auch die psychologischen Strapazen nachzeichnet. Beide haben ihre von dunklen Augenringen unterlaufenen Augen geschlossen und ihre Mundwinkel hängen tief herab. Doch trotz ihrer ausgemergelten Physiognomie und trauernder, die beinah karikaturhaft verzerrt erscheint, entsteht hier ein kontrastreiches Bild von vertraut-zärtlicher Hinwendung und Innigkeit. Denn die Frau umgreift mit ihren Händen zärtlich den linken Arm des Invaliden, dessen Unterarm prothetisch ist, und drückt den Fremdkörper an ihre Brust. Als korrelative Kraft ist der rechte Arm des Mannes um den Körper der Frau gelegt und zieht diesen wiederum zu sich heran. Die reziproke Energie dieser Gesten unterstreicht die auf Gegenseitigkeit beruhende Anziehungskraft des Paares.

Ein an der rechten Hüfte der Frau hervorlugender Haken verrät allerdings, dass dem Invaliden nicht nur der linke, sondern beide Arme fehlen. Demzufolge lässt sich das kleine Objekt mit zwei weißen Streifen am Revers als sogenannter Kriegsinvalidenorden identifizieren, der auf die militärische Vergangenheit des Mannes verweist und mit den Streifen über die Anzahl der verlorenen Gliedmaßen Auskunft gibt. Ein abstraktes Zeichen und eine fragwürdige Ehre, die angesichts der tragischen Zuwendung zur nebensächlichen Requisite gerät.
Die Armprothese hat Hoerle hier recht authentisch wiedergegeben, denn trotz des surrealistisch anmutenden Zeichenstils, sind Bestandteile, Aufbau und Funktionsweise des technischen Substituts der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nachempfunden. Ein Textil- beziehungsweise Lederstück ist eng um den Armstumpf gebunden und formt den Korpus des Ersatzarms, der im Innern noch durch Metallstreben verstärkt wird. Die von einem Faden durchzogenen Schnürung verläuft über die gesamte Länge der Prothese und mündet am Ellenbogengelenk in einem kleinen Knoten. Dort akzentuiert ein durch dunkle Schraffur gesetzter Schatten die Schnittstelle von Körper und Prothese. Die detailliert dargestellte Schnürung und der feine Konten beschreiben die Funktionalität des Auf- bzw. Zubindens und verweisen also auf das An- bzw. Ablegen der Prothese. Insofern wird die Prothese hier als ephemere Präsenz am eigentlichen Körper inszeniert. Am Kopf des Substituts befindet sich schließlich ein metallisch schimmernder Aufsatz in Form eines sichelförmigen Hakens, womit die Prothese als sogenannte Arbeitshand – durch welche die Resozialisierung der Versehrten in der Weimarer Republik gelingen sollte – identifizierbar ist.
Allen voran bildet die Prothese damit einen Rückverweis auf den Krieg, die Kriegserfahrungen und die dort erlittenen leiblichen Verstümmelungen. Die Trauer und das Leid des Paares sind also nicht im reinen Verlust der Gliedmaßen begründet, sondern mitunter im traumatischen Kriegserleben verborgen. Hoerle lässt die physischen Auswirkungen insbesondere im Bildzentrum kulminieren. Denn dort finden sich auch, als Entsprechung zur Prothese des Mannes, die Hände der Frau, die in ihrer knochigen und brüchigen Erscheinung gleichsam die Spuren des deformierenden und also entmenschlichenden Krieges zu tragen scheinen. Dazu sei gesagt, dass die Prothese in der Nachkriegszeit ab 1918 eine symbolische Sonderstellung inne hatte. Nicht nur wegen ihrer neuartigen Form, sondern da erst mit ihr die Zerstörungskraft in die heimischen Straßen und damit in den unmittelbaren Wahrnehmungsradius der Öffentlichkeit eintrat.
Über die Verweisfunktion auf vergangenes Kriegsgeschehen hinaus setzt die Prothese in diesem Blatt aber auch die bleibenden und kommenden Beeinträchtigungen als status quo ins Bild, was im Wesentlichen aus der akzentuierten In-Bezug-Setzung mit dem Bildgeschehen resultiert. So ist es ausgerechnet der ungewöhnliche und neue Fremdkörper, den die Frau, wohl um Akzeptanz zu signalisieren, mit beiden Händen fest umgreift und an sich zieht. Die Prothese markiert hier nicht nur symbolhaft den Status der Invalidität, sondern ist als Requisite aktiv in das Bildgeschehen eingeschrieben. Im Zuge dessen fällt auf, dass das Substitut, trotz der rührenden Geste der Hin- und Annahme, doch deplatziert und unpraktisch bleibt. Dies zeigt sich insbesondere am Haken der Rechten des Mannes, welcher die Hüfte seiner Ehepartnerin umgreift. Das spitze Ende des Werkzeugs liegt auf der zarten und unversehrten Haut seiner Gattin und droht – antizipiert man ein Herbeiziehen des Mannes – in diese einzustechen. In diesem Detail lässt Hoerle die Bestimmung und Zweckmäßigkeit der Prothese eindrucksvoll scheitern. Denn der Mann führt eine Handlung aus, die im übertragenen Sinne eigentlich genau der Funktion des Hakens als Greiforgan entspricht und folglich schlägt die verheißene Funktionalität ausgerechnet im Ergreifen seiner Frau fehl.
Die gegenseitige Wahrnehmung des Körpers und Taktilität sind hier maßgebliche Themen, in Szene gesetzt durch die tastenden Hände, die verschlungene Umarmung und die Berührung an der Stirn. Im Spiel der gegenseitigen Berührungen gelingt es Hoerle, einen Ausdruck für eigentlich nur schwer Darzustellendes zu finden. Insofern nämlich die Prothesen nach dem Ersten Weltkrieg noch nicht die sensorische Fähigkeit der Hand, bzw. der Finger wiederherstellen konnten, vermag zwar die Frau den neuen Arm ihres Mannes zu betasten und erfühlen, umgekehrt bleibt es dem Mann allerdings verwehrt seine Frau haptisch zu erfahren. Nicht nur visuell ist der Körper der Invaliden unvollständig, sondern nunmehr auch seiner taktilen Wahrnehmungsfähigkeit beraubt. Die Berührung an der Stirn gewinnt sodann noch weiter an Bedeutung, insofern sie der einzige gegenseitige, taktile Berührungspunkt des Ehepaars ist. Untermalt wird dieser Verlust noch von der Tatsache, dass die Hände der Frau im Gegensatz zur industriell gefertigten und normierten Prothese, von den Spuren des Lebens gezeichnet sind. Beinah demonstrativ bezeugen hervortretende Knochen, die ihre Finger ausgemergelt und brüchig wirken lassen, die Natürlichkeit ihrer Hände, wohingegen die individuelle Physiognomie der Hand des Mannes irreversibel verloren ist.
In der Lithografie „Das Ehepaar“ verbindet Hoerle nicht nur die Grauen und entstellende Kraft des Krieges mit Aspekten posttraumatischer Bewältigung, sondern zeigt dramatisch die privaten Herausforderungen, die von nun an und fortwährend die intime Zweisamkeit des Paares begleiten werden.