G. Lékégian – Boutiques Arabes No. 54

Vor allen Dingen aber durchbohrte ich mit meinen Blicken die rundum verschlossenen und bedeckten Balkone, […] durch welche dunkelglühende Frauen- und Odaliskenaugen auf die Gassen hinausschauen, ohne selbst gesehen zu werden“(Bogumil Goltz, Ein Kleinstädter in Ägypten, 1853)

Der kleine Abzug wurde in einer der engen Straßen Kairos gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgenommen. Der Blick wendet sich ab vom Weg und richtet sich auf eine formatfüllende Ansicht einer Häuserfassade, die leicht schrägsichtig aufgenommen ist – möglicherweise bot die schmale Straße nicht mehr Platz. Erfasst werden die zwei unteren Geschosse einer das Bildgeviert überragenden Gebäudestruktur. Beide Stockwerke vereinnahmen dabei jeweils ungefähr die Hälfte des Blattes. Im Erdgeschoss findet sich das, was den armenischen Fotografen G. Lékégian zur Titelgebung veranlasst. „Boutiques Arabes“; ein örtliches Geschäft hat seine Waren zur Straßenseite ausgebreitet, sie aus dem schattigen Inwendigen hervorgeholt und als Schaustücke ins rechte Licht gesetzt.

Hell erleuchtet ist die hinausgebrachte Auslage von der ägyptischen Sonne, die steil in die Straße fällt und ein kontrastreiches Chiaroscuro auf die Fassade zaubert. Links liegen Früchte in geflochtenen Körben, daneben öffnet sich eine kleine Theke zum Feilschen, Wiegen und Verkauf, vor welcher in Kisten und Körben sich weitere Dinge des täglichen Bedarfs auftürmen. Wieder öffnet sich die Wand zu einem größeren Eingang in das Geschäft, in dessen schattiger Tiefe einige aufgehängte Gefäße schemenhaft gerade noch das Tageslicht einfangen. Die weiß gekalkten Wände des Straßenladens sind mit einer Fülle gemalter Schriftzeichen, Ornamente und Tierzeichnungen üppig dekoriert und erwidern einladend die neugierigen Blicke.

In der oberen Etage endet der einladende Impetus, dort wird den Blicken Einhalt geboten. Aus der Fassade ragt ein filigraner und aus Holz geschnitzten Erker, der von ebenso hölzernen Streben getragen wird. Das sogenannte Maschrabiyya verkehrt gemäß dessen Funktion, Blicke von außen abzuhalten und solche von innen zu gewähren, die zugängliche Offenheit des Erdgeschosses ins Gegenteil. Oberhalb des völlig offenen Ladens markiert der kunstvoll geschnitzte Schleier nun einen privaten Raum, der in dieser Fotografie wirkungsvoll der öffentlichen Sphäre des Lebens auf der Straße entgegengesetzt ist und so nichts anderes als das traditionelle Modell zweier getrennter Lebensbereiche und die entsprechend gegensätzliche architektonische Blickregie versinnbildlicht. Dieses findet in der Fotografie durch den sachlichen Bildaufbau, welcher dem Dualismus der architektonischen Zweigeschossigkeit Folge leistet, in eine anschauliche Form.

Félix Bonfils, Types de femmes, um 1880

Die Maschrabiyyen waren schnell zu beliebten Motiven der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnenden photographischen Streifzüge durch den Orient geworden, verloren aber angesichts der erobernden Blicke der Kameras bald ihre einseitige Durchlässigkeit und öffneten sich, um ihre vermeintlichen Geheimnisse zu offenbaren. Im Zuge dessen wurden sie oftmals zu Kulissen genreartiger Inszenierungen des Alltagslebens der Einheimischen, in deren szenischer Narrativität der Blick aus den Maschrabiyyen heraus erwidert wurde; Innen und Außen boten sich nun gleichzeitig und lediglich auf Straßenniveau dar. Anzeichen einer Vergänglichkeit, wie etwa die links abrupt aufbrechende Gebäudestruktur und Fassade bei Lékégian, fehlen hier, so derlei den Eindruck zeitloser orientalischer Pracht wohl marodiert hätte.

In diesem Abzug Lékégians allerdings bleibt der Inszenierungscharakter verhalten und besteht gegenüber gängigen fotografischen Direktiven im Wesentlichen darin, dass die Kamera wohl in einem möglichst verwaisten Augenblick ausgelöst werden sollte. Das ist ungewöhnlich, weil das rege Treiben von Orientalen oft maßgeblich für die Attraktivität die Aufnahmen war, ganz abgesehen von der Tatsache, dass jene Orte zur Tageszeit naturgemäß von Passanten bevölkert waren. Diesen Unterschied illustriert beispielsweise eine Aufnahme des Fotostudios Abdullah Frères, die ebenjenes Geschäft abbildet, ausstaffiert mit Händlern und Passanten.

Viçen, Hovsep und Kevork Abdullah, Boutiques Arabes No. 422, um 1860/90
Detail: G. Lékégian, Boutiques Arabes No. 54.

Und dennoch: Zwei Figuren haben in die Aufnahme gefunden – wenn auch erst auf den zweiten Blick erkennbar. Vor dem dunklen Grund des linken Innenraums zeichnen sich sanft die Umrisse einer Person ab, während auf dem sonnigen Trottoir ganz links ein Passant in Bewegungsunschärfe den Blick kreuzt. Paradox, denn diese Tatsache führt die Logik von Fotografie und Faszination ad absurdum. So konstituiert sich hier im eigentlich Unverborgenen ein verborgener Gegenblick und die Sensation des heimlichen Gegenübers ist in das Erdgeschoss verlegt. Dorthin, wo die Kamera im Schatten des Ladens das materialisiert und sichtbar macht, was ihr im Lichte entgeht und bloß vage bleibt.