Frontispiz „Surinam“ – Frederic Ottens

Im Jahr 1705 erschien Maria Sybilla Merians naturkundliche Enzyklopädie über die >Metamorphosis insectorum Surinamensium<. Vier Jahre zuvor hatte sie einen zweijährigen Aufenthalt im tropischen Klima Surinams verbracht, um vor Ort Beobachtungen zur Flora und Fauna anzustellen. Die Buchkunst und das einhergehende Streben nach konsistenten Wissensordnungen hatten da bereits eine 250-jährige Erfolgsgeschichte durchlaufen. Seit der Erfindung des Letterndrucks waren etliche Kompilationen diversester Disziplinen erschienen und erfuhren zunehmende Wertschätzung in einer breiteren Öffentlichkeit. Die immer höheren Auflagen für eine immer größere Leserschaft erforderten bald vorangestellte Veranschaulichungen, die das inhaltliche Spektrum – neben technischen Angaben – kompakt erfassbar machten; Titelkupfer und Frontispize entwickelten sich schnell zu aufwendig und prachtvoll gestalteten Ouvertüren der Druckerzeugnisse.

Ottens Kupferstich einer Ausgabe von 1730 eröffnet den Schauenden einen geteilten Bildraum. Eine barocke und mit üppigem Ornament ausgestattete Rahmenarchitektur füllt das hochkantige Format und bildet die Schwelle zweier Zonen. In der vorderen Bildebene herrscht ein reges Treiben verschiedener Figuren. Sechs Knaben leisten einer Frau in feinem Gewand Gesellschaft und sind in verschiedene wechselseitige Interaktionen vertieft. Ihre Umgebung ist dabei nicht näher ausgestaltet und verortet. Darüber öffnet sich rundbögig die Architektur für einen szenischen Durchblick auf das südamerikanische Surinam. Dort wandern die Augen aus schattigem Dickicht über eine von hohen Palmen und Gewächsen umgebene Wasserstelle hinweg, durchqueren eine sandige Lichtung und stoßen schließlich an ein Flussufer, wo sich die Aussicht zu einem Panorama ausbreitet. Hütten besiedeln dessen Ufer, darüber zeichnen sich im Himmel neben einigen Wolken die Silhouetten eines fernen Bergmassivs ab.

Beide Bildebenen, wie unwahrscheinlich eine solche dioramatische Raumsituation auch ist, schließen sich zu einem kohärent fluchtenden Bildganzen – so als könne man geradewegs über die niedrige Mauer steigen und das ferne Land betreten. Die Bezüge zwischen angrenzenden Zonen sind aber nicht nur perspektivischer Natur; in ihnen vereinen sich sukzessivlogische Aspekte der enzyklopädischen Praxis zu einer simultanbildlichen Vergegenwärtigung.

Detail: Frontispiz „Surinam“, J. Ottens, 1730.

Zunächst erfüllt der szenische Durchblick die Funktion einer illustrativen Präfiguration der naturkundlichen Buchgattung sowie des topografisch gesetzten Rahmens des Buchinhaltes, finden sich in der Ansicht Surinams doch allerlei tropische Gewächse und Kleintiere. Palmen, Bäume und Sträucher durchziehen die exotische Landschaft. In der Wasserstelle im Vordergrund tummeln sich ein Käfer und ein Frosch, im Dickicht davor haben sich Schmetterlinge auf den Blättern einiger Pflanzen niedergelassen. Die architektonische Rahmung als solche suggeriert einerseits ein ordnendes und stabilisierendes Prinzip als metaphorischen Verweis auf das zwischen zwei Deckeln organisierte und lexikalisierte Buchwissen. Andererseits versinnbildlicht sie den Modus einer medial sich darbietenden Form des Wissens und konstruiert eine metaphorische Außenperspektive des Lesers. Diesem allerdings verspricht die Bogenarchitektur eine höchst attraktive Anschauung; im Angesicht und Genuss des unmittelbar vor ihnen sich ausbreitenden exotischen Ausblicks, werden die Knaben davor in kindliches Staunen und Neugier versetzt. Das aufwendige Reliefornament schließlich, insbesondere die wie aus Füllhörnern sich ergießende Frucht- und Blütenpracht an den flankierenden Pilastern, verleiht der Darbietung einen angemessenen Rahmen. Sowohl den Inhalt als auch die Form betreffend, wird eine nicht nur informative, sondern auch vergnüglich immersive Lektüre angekündigt.

Detail: Frederic Ottens, Frontispiz „Surinam“, 1730.

Neben der Funktion einer Visualisierung von Medialität und Rezeption der Enzyklopädie, ist in der zweigeteilten Zonenstruktur des Frontispizes ein erkenntnistheoretisches Modell zur Anschauung gebracht, in dessen Logik der Inhalt des Bandes validiert wird. Demgemäß bildet die Darstellung Surinams einen empirischen Raum, also den Ort der Beobachtung und Sammlung von Phänomenen. Als Veranschaulichung der Feldforschung jagt im Zentrum der hell erleuchteten Lichtung eine Frauenfigur – durch ihre Kleidung als ortsfremd markiert – mit Köcher und in gebückter Haltung Insekten nach. Nicht immer verbergen sich hinter den aufbereiteten und verschriftlichten Erkenntnissen fröhliche Wissenschaften, häufig auch Anstrengungen denen hier gedacht und Würde gezollt wird. Weiter links tragen zwei Personen die mühselige Beute auf ihren Schultern zur Unterkunft. Das Vor-Ort-gewesen-sein wird als notwendige Bedingung des zum Buch gewordenen Wissens beglaubigend ins Bild gesetzt. Alsdann wird die Architektur zu einer epistemologischen Schwelle, vor der sich nun der Raum theoretischer Wissenschaft ausbreitet. So bleibt der Vordergrund auch nicht näher definiert, die Aktivitäten der Frau und Kinder sind in einem abstrakten und ortlosen Bereich situiert, wo die analytische und systematisierende Praxis der Enzyklopädistik als Narrativ von links nach recht entsponnen ist. Die fremdartigen Mitbringsel werden am Tisch untersucht, bestimmt und in ovalen Präparationskästchen drapiert. Einen Schritt weiter werden in größeren, rechteckigen Lagerkästen, unter zunehmend allgemeiner werdenden Kategorien, Art und Art zusammengefasst. Ein bisweilen diskursiver Prozess, dessen Streitbarkeit sich im Zank des zweiten und dritten Knaben von rechts ausdrücken mag. Schließlich kann das systematisierte Gut eingelagert werden. Platz dafür findet sich im rechten Sockel, der sich als Schränkchen öffnen lässt. An seinem Pendant ganz links findet sich zudem noch eine eingetopfte Ananas, die als solche möglicherweise den Aspekt der Kultivierung aufruft. Wie auch immer; im gesamten Vordergrund wird das theoretische Desiderat der Reise konzentriert und konserviert. Ein Buch aber ist noch nicht entstanden.

Detail: Frederic Ottens, Frontispiz „Surinam“, 1730.

Allegorisiert wird dieser Vollzug in Person der Frau – ist es Merian selbst? – und dem Augenblick ihrer Darstellung. Ganz nah bei ihr, am unteren linken Rand der architektonischen Öffnung kommt es zu einer Schwellensituation. Dort sind die im Schatten zu prototypischen Umrissen gewordenen Pflanzen und Insekten in ihrem natürlichen Habitat direkt neben die in der aufgestützten Hand befindlichen und also aus der Natur herausgelösten Forschungsobjekte gesetzt. Im Zentrum dieses pointierten Schwellenmomentes kulminiert die Idee des sur le vif. Vom konzentrierten Blick des Studiums noch erhellt, wendet sich ihr Kopf von den Mitbringseln schon wieder ab, hin zu etwas anderem. Im simultanen Abdriften von Blick und Kopfneigung verbinden sich schließlich natürliches Vorbild und kupfergestochenes Abbild zur unmittelbaren Kausalität. Verwirklicht im gedruckten Resultat ganz unten links, dem aufgeschlagenen Buch; man muss nur weiterblättern, um sich dessen zu vergewissern.