Marina schminkt Luciano. Ein privater Moment, ein historischer Moment. Zwei Menschen sind einander zugewandt, eine Frau und ein Mann – die Zuschreibung wird nur durch den Titel deutlich. Was ein klassischer Hollywood-Kuss werden könnte, wird durch verschwommene Rollenverhältnisse aufgebrochen. In diesem monumentalen Werk verbinden sich Zärtlichkeit und Vertrautheit mit Aufbruchstimmung und Rebellion.
Der Schweizer Künstler Franz Gertsch malt fotorealistisch, malt Abbilder von Abbildern, und könnte somit fälschlicherweise dem Programm der amerikanischen Fotorealisten untergeordnet werden, tatsächlich erscheint seine Arbeitsweise aber vielmehr als beinahe organische Weiterentwicklung dessen, was in der Historienmalerei die kalkulierte Inszeniertheit der griechischen Tragödie war. Das Theatrale im Historienbild wird abgelöst vom Filmisch-Fotografischen als Leitmedium der Mythenbildung, welches der Künstler durchaus selbstreflexiv, jedoch nicht selbt-infragestellend einsetzt.
Die Diagonalachsensymmetrie, verstärkt durch Marinas parallelen Arm und fortgeführt durch den Faltenwurf der durchsichtigen Plastiktüte, wirkt zusammen mit der starken Mittelsenk- und waag-rechten. Die Figurenausrichtung (nicht nur zueinander, sondern auch zum (Bild-)Raum) und ihr Berührungspunkt folgen diesem ästhetisch befriedigenden Raster. Unterstützend wirkt dabei die fast schon neurotische Farbgebung. Weiß, Rot und Blau dominieren das Gemälde in harmonischer Eintracht. Die Komposition ist perfektionistisch, doch gerade als sie ins Artifizielle überzuschlagen droht, wird sie von Gertsch mit der Eigenheit seines Quellenmediums aufgewogen. Der Fotografie wurde allgemein die Fähigkeit zuerkannt, verlässlich Wirklichkeit zu dokumentieren, und indem er sie als Vorlage, gewissermaßen als Abpausfolie, für sein Gemälde einsetzt, macht er sich diesen Ruf nutzbar. Die tatsächliche Realität des abgelichteten Moments verbindet sich mit dem Realitätsanspruch des Lichtbildes, und wird in das Gemälde eingeschrieben, sodass eine wirkungsvolle Balance zwischen stilistischer Perfektion und inhaltlicher Glaubwürdigkeit geschaffen wird.
Die spezifische Sujetwahl des 1975 vollendeten Gemäldes widersetzt sich bewusst den konservativen Themenvorgaben der Historienmalerei und zeigt dadurch auf, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Private politisch geworden ist, wodurch jede noch so intime Handlung den Charakter eines entscheidenden geschichtlichen Ereignisses erhält.
Das Gay-Rights-Movement der 60er, 70er und 80er Jahre war anders als die meisten politischen Bewegungen ohne konkrete Führungs- und Heldenfiguren. Es ist als Gemeinschaftsprojekt zu verstehen, in dem die Gesamtheit der Individuen den Helden bildet. Ausgangspunkt für den Aufstand war die Tatsache, dass Kirche und vor allem Staat sich ins Allerprivateste, in Sex und Liebe einmischten, und dabei die LGBTQ+ Gemeinschaft dämonisierte, marginalisierte und buchstäblich bis in den Privatraum hinein verfolgte.
Insofern erscheint es als Gegenreaktion nur logisch Repräsentanten vom Rande der Gesellschaft ins Zentrum zu holen. Anstelle der für das Historienbild typischen bühnenhaften Totalen, verlagert eine schmerzlich aufdringliche Nähe zu den Figuren deren Innenleben in den Fokus. Dabei wird die Übergriffigkeit des Staates durch die Penetration des vielleicht privatesten Raums des Hauses, des Badezimmers, widergespiegelt und im Kontrast zur familiären Vertrautheit und selbstvergessenen Zärtlichkeit der Handlung angeprangert.
Marina fungiert dabei als Spiegelfigur des Künstlers. Durch Farbe macht sie Luciano zu einer politischen Figur wie Gertsch durch Farbe ein politisches Bild erschafft. Die Tatsache, dass er ungrundierte Baumwolle verwendet, in der sich seine Pigmente nahezu unauslöschbar festsetzen, kommt als unterstreichender Faktor hinzu, das Motto widerspiegelnd „We’re here, we’re queer. Get used to it!“
Die Grandeur des Historienbilds wird durch ein monumentales Format und eine perfektionistische Komposition aufgerufen. Der Künstler verleiht seinen Figuren ein gewisses Leuchten durch kräftige Farben und die Betonung der Lichtreflexe, die auf den Blitz der Fotografie zurückzuführen sind. Das intradiegetische „decorum“ aber kehrt entschieden keine retuschierte Pracht hervor. Die dargestellten Abnutzungsschäden an beispielsweise der Farbe des Fensterrahmens, der Vorhänge, und an Marinas Nagellack, der Mangel an ordentlichem Stauraum, der durch Tüten nur provisorisch ausgeglichen wird, oder die Risse in den Wänden tragen Zeugnis der Marginalisierung von LGBTQ+ Personen, die vom heteronormativen System zu einer benachteiligten Subkultur gemacht und in den wenig glamourösen Untergrund gedrängt wurden.
Die durchsichtige Plastiktüte erinnert bei flüchtigem Hinsehen an einen Bluttransfusionsbeutel, wie er dort erhöht über Luciano hängt mit dem roten Schminkartikel darin. Sie weist darauf hin, dass alles von der Heterosexualität Abweichende von Staat und Gesellschaft als Krankheit klassifiziert wurde. Aus heutiger Perspektive kommt man außerdem nicht umhin den Transfusionsbeutel als beinahe prophetische Vorwegnahme der im nachfolgenden Jahrzehnt aufkommenden AIDS-Krise zu lesen. Die Immunerkrankung, erstmals bei schwulen Männern entdeckt, wurde zunächst als GRID, gay-related immune deficiency, bekannt, und befeuerte deren Stigmatisierung, obwohl sich später herausstellen sollte, dass der Virus sich keinesfalls nur durch schwulen Sex überträgt, – eine Täuschung, die stellvertretend aufgelöst wird, indem sich der Blutbeutel als harmlose Plastiktüte entpuppt.
Derartige Inhalte verstoßen deutlich gegen die Angemessenheitsvorgaben der traditionellen Historie, andererseits dienen sie der Formulierung eines bildlichen Narrativs, welches wiederum von der Historienmalerei angestrebt wurde. Dieses Narrativ schließlich ist, was Gertschs Werk am stärksten mit der Kunst der Historie verknüpft:
Es ist Abend, Marina schminkt Luciano, die Amerikaflaggen auf ihrem Hemd rufen Visionen der Großstadt auf, jener Metropole, die niemals schläft, des Ursprungsorts der LGBTQ+ Rebellion. Im Fruchtbaren Augenblick, als nur noch der letzte Pinselstrich gesetzt werden muss, kulminieren Weg und Ziel im Gemälde in höchster Spannung. Es herrscht Aufbruchsstimmung.
Die Assoziation mit Amerika führt schließlich zum bereits erwähnten klassischen Hollywood-Kuss – Epizentrum der Heteronormativität. Die Frau sinkt willig in die starken Arme ihres Helden, und über ihnen erscheint der Schriftzug „Happy End.“ Die Genderhülsen sind korrekt positioniert – die Figur im Männerhemd und mit Kurzhaarfrisur blickt hinab auf die Figur mit den typisch-femininen, langen Haaren. Allerdings wird die Identitätszuschreibung verkompliziert durch starkes Make-Up auf beiden Seiten und die Tatsache, dass die bekannten Attribute vom jeweils anderen Geschlecht in Gebrauch genommen werden. Judith Butler bemerkt dazu:
„Travestie ist nicht das »Übernehmen« einer Geschlechtsidentität, die eigentlich einer anderen Gruppe gehört, das heißt kein Akt der Expropriation oder Appropriation, der voraussetzt, daß Geschlechtsidentität eine rechtmäßige Eigenschaft des Geschlechts ist, daß »maskulin« zu »männlich« und »feminin« zu »weiblich« gehört. […] [Die Travestie] impliziert, daß jedes »Gendering«, jedes Spiel mit der Geschlechtsidentität, eine Form der Darstellung und der Annäherung ist. Wenn das so stimmt, so scheint es, dann gibt es keine durch die Travestie imitierte originäre oder primäre Geschlechtsidentität, sondern die Geschlechtsidentität ist eine Imitation, zu der es kein Original gibt; tatsächlich ist sie eine Imitationsform, die als Effekt und Konsequenz der Imitation die Auffassung von der Existenz eines Originals erst produziert.“ 1
Marina schminkt Luciano stellt dieses Paradox wirksam aus. Die Suche nach einer klaren Antwort, was Geschlecht oder Sexualität betrifft, wird hier auf Irrwege geschickt, welche die Sinnlosigkeit des Unterfangens verdeutlichen.
Da eine Aufschlüsselung durch die Begriffe Mann/Frau, Frau/Mann nicht aufgeht, eröffnet sich ein weiterer Deutungsvorschlag, der dem Bild innewohnt: Mutter schminkt Kind. Reinheit und Unschuld. Die Assoziation begründet sich auf der Tatsache, dass im Privatraum, insbesondere im Badezimmer, gemeinhin nur Familie und womöglich noch Freunde anzutreffen sind. Die spezifischen Rollen erwachsen aus den symbolhaften, wortwörtlichen Hintergründen. Weiße Spitzenvorhänge, wie sie der Generation der (Groß-)Eltern angehören, markieren Marinas Bildhälfte, während die Abbildung eines Kindes direkt über Luciano prangt. Betreffend gewinnt damit seine niedrige Position eine neue Wirkung. Die Schminksituation als solche wird so zur Karnevalsvorbereitung, wo Verkleidung ohne Sanktionen akzeptiert wird und der allgemeinen Erheiterung dient. Nicht nur wird durch diesen Vergleich der Ausdruck von „Queerness“ als positiv und unbedrohlich charakterisiert, es wird auch ein Blickwinkel vorgegeben, der das Geschehen so wohlwollend betrachtet wie ein liebevolles Mutter-Kind-Szenario.
Dieses Wohlwollen wird umso deutlicher, bedenkt man die schiere Arbeitsmühe, die Gertsch in sein Gemälde investiert hat. Monatelange Kleinstarbeit war nötig, die Fotografie in naturalistischem Detail auf ein Großformat zu übertragen. Der Aufwand allein bürgt für die Würdigung, die er seinem Sujet zukommen lässt. Passend verhandelt er es im Genre der Historienmalerei, welche ihrerzeit als Alpha und Omega künsterlischen Könnens galt und somit eine Tradition des Prestiges mit sich führt. Marina schminkt Luciano erhebt sich zum monumentalen Denkmal.